Interview mit Corinna Belz: Vom Bild zur Sprache
Sie erleben in diesem einzigartigen Dokumentarfilm eine faszinierende Transformation: den Weg von der visuellen zur sprachlichen Kunst. Nach ihrem gefeierten Film über den Maler Gerhard Richter wendet sich die Regisseurin Corinna Belz einem neuen künstlerischen Medium zu – der Sprache selbst. In dieser dokumentarischen Exploration steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich das geschriebene Wort auf der Leinwand einfangen lässt.
Der Film offenbart eine völlig neue Perspektive auf die dokumentarische Arbeit, indem er die Herausforderung annimmt, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Sie begleiten Belz auf ihrer Reise, den kreativen Prozess des Schreibens filmisch zu dokumentieren – eine Aufgabe, die sie mit bemerkenswerter Sensibilität und innovativem Gespür meistert. Diese cinematographische Metamorphose zeigt, wie die Kraft der Bilder und die Macht der Worte sich zu einer einzigartigen künstlerischen Vision vereinen.
Ihre Inspiration: Der Weg zum Sprachfilm
Der Wendepunkt in Belz‘ künstlerischem Schaffen kam nach der intensiven Auseinandersetzung mit Gerhard Richters visueller Welt. „Nach meinem Film über Gerhard Richter wollte ich etwas über Sprache machen“, erklärt sie. In einer Zeit der Bilderflut erschien es ihr essentiell, den Fokus auf die oft vernachlässigte Kraft der Sprache zu richten. Diese bewusste Entscheidung markierte den Beginn einer neuen künstlerischen Exploration.
Der entscheidende Moment ereignete sich in Salzburg, wo Sie die Uraufführung von Peter Handkes Stück „Immer noch Sturm“ erlebten. Die Aufführung öffnete neue Perspektiven auf die Möglichkeiten, Sprache filmisch zu dokumentieren. Die unmittelbare Wirkung des Theaterstücks überzeugte Belz, dass ein Film über einen Schriftsteller der Sprache etwas zurückgeben könnte, was in der visuell dominierten Gegenwart verloren zu gehen droht.
Die Verbindung zwischen dem geschriebenen Wort und dem filmischen Bild entwickelte sich zu einer faszinierenden Herausforderung. Sie entdecken, wie Belz einen einzigartigen Ansatz findet, bei dem der Zuschauer zwischen den Rollen des Betrachters und des Lesers wechselt – eine Innovation im dokumentarischen Filmschaffen.
Die Herausforderung der Schreibprozess-Dokumentation
Sie stehen vor einer völlig anderen Herausforderung, wenn Sie den Schreibprozess im Vergleich zum Malprozess dokumentieren. „Er hatte mit seiner Tochter meinen Richter-Film im Kino angeschaut und sagte, aber was wollen Sie denn drehen? Schreiben kann man nicht darstellen, wie das Malen eines Bildes“, erinnert sich Belz an Handkes erste Reaktion. Anders als bei der Malerei, wo Sie den physischen Akt der Kunsterschaffung beobachten können, entzieht sich der Schreibprozess weitgehend der visuellen Dokumentation. Die besondere Herausforderung liegt darin, das Unsichtbare – den Moment der sprachlichen Schöpfung – für die Kamera greifbar zu machen.
Belz entwickelte innovative Lösungsansätze für diese dokumentarische Herausforderung. Sie entdecken in ihrem Film eine neue Form der Annäherung an den kreativen Prozess, bei der nicht das direkte Abbilden im Vordergrund steht, sondern das Erschaffen einer Atmosphäre, die den Schreibprozess spürbar macht. Durch die geschickte Kombination von Aufnahmen des Umfelds, der persönlichen Gewohnheiten und der entstehenden Texte gelingt es ihr, eine cinematographische Sprache zu entwickeln, die das Schreiben in seiner Essenz einfängt.
Das Haus als kreativer Raum
Sie betreten mit dem Haus in Paris einen Ort, der weit mehr ist als nur ein Wohnraum. Es ist ein sorgsam gehüteter kreativer Kosmos, in dem jeder Winkel eine Geschichte erzählt und zur Entstehung von Literatur beiträgt. Die Atmosphäre des Hauses, mit seinen ruhigen Ecken und dem umgebenden Garten, schafft jenen „nichtsprachlichen Raum“, den Handke für sein Schaffen als essentiell erachtet.
In dieser Umgebung entdecken Sie, wie eng der physische Raum mit dem kreativen Prozess verwoben ist. Das Haus wird zum stillen Zeugen des Schreibens, ein Ort, an dem die „kleinteilige Welt“, wie Handke sie nennt, die Grundlage für das Entstehen von Literatur bildet. Die Stille des Hauses, die Belz in ihren Aufnahmen einfängt, offenbart sich als fundamentaler Bestandteil des kreativen Prozesses, als Nährboden für die Entstehung von Sprache und Text.
Die Rolle der Polaroids und Notizbücher
Sie erhalten durch Handkes persönliche Artefakte einen einzigartigen Einblick in seinen kreativen Kosmos. In der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien bewahrt man eine umfangreiche Sammlung seiner Polaroids und Notizbücher auf, die als permanente Leihgabe einen wertvollen Schatz an künstlerischer Dokumentation darstellen. Diese persönlichen Dokumente gewähren Ihnen einen authentischen Blick in die Entstehung seiner Werke.
Die Polaroid-Aufnahmen aus den 70er Jahren offenbaren eine besondere Form der Selbstvergewisserung. Sie entdecken darin Handkes fotografischen Blick auf sein Familienleben, auf Landschaften und immer wiederkehrende Straßenmotive. Diese visuellen Momentaufnahmen, die er primär für sich selbst schuf, zeigen eine faszinierende Materialität und Farbgebung, die eine ganz bestimmte Zeitepoche einfangen.
Die Notizbücher, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden, erschließen Ihnen einen „unzensierten Kosmos“ seiner Gedankenwelt. Sie finden darin ein lebendiges Archiv von Reiseeindrücken, Lektürenotizen, Skizzen für Bücher und persönlichen Beobachtungen – ein einzigartiges Zeugnis seines kreativen Schaffensprozesses.
Ihre dreijährige Reise mit Peter Handke
Sie begleiten Belz auf einer außergewöhnlichen dokumentarischen Reise, die sich über drei Jahre erstreckte. Von den ersten Aufnahmen im Oktober 2012 bis zum Abschluss entwickelte sich ein behutsamer Dokumentationsprozess, der sich vollständig dem Arbeitsrhythmus des Schriftstellers anpasste. Die Dreharbeiten fanden hauptsächlich in Paris statt, mit weiteren Aufnahmen auf dem Land und in Wien.
Die Besonderheit dieser Dokumentation liegt in ihrem respektvollen Umgang mit Handkes Arbeitsweise. Sie erleben, wie die Filmemacherin sich auf kurze Drehperioden von maximal vier bis fünf Stunden täglich beschränkte, um den kreativen Rhythmus des Autors nicht zu stören. Die Planungen erfolgten ausschließlich während Handkes festgelegter Telefonzeit zwischen 10 und 11 Uhr morgens – ein Prozess, der seine eigene Dynamik entwickelte.
Diese methodische Herangehensweise folgt Handkes elftem Gebot: „Du sollst Zeit haben.“ Sie erkennen, wie dieser Grundsatz den gesamten Dokumentationsprozess prägte und zu einer authentischen Darstellung seines künstlerischen Schaffens führte.
Die Kunst der Sprachlichen Sensibilität
Sie erfahren in den Gesprächen mit Peter Handke eine außergewöhnliche sprachliche Präzision, die jeden Aspekt der Kommunikation durchdringt. „Es geht um alles“, beschreibt Belz diese Erfahrung, bei der jedes einzelne Wort auf den Prüfstand gestellt wird. Die sprachliche Sensibilität manifestiert sich in einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Wortwahl, wobei selbst scheinbar alltägliche Begriffe einer genauen Prüfung unterzogen werden. Diese intensive Beschäftigung mit der Sprache prägt nicht nur den Dokumentarfilm, sondern auch die Art und Weise, wie Sie die Entstehung von Literatur neu verstehen lernen.
In den dokumentierten Gesprächen begegnen Sie konkreten Beispielen dieser sprachlichen Feinfühligkeit: „Wut ist nicht das richtige Wort“, „Lieblingsfilm ist kein schönes Wort“ – solche Korrekturen verdeutlichen Handkes präzisen Umgang mit Sprache. Besonders aufschlussreich ist seine Ablehnung des Wortes „Arbeit“ zugunsten des Begriffs „Tun“. Sie erleben, wie diese sprachliche Präzision zu einer tieferen Form der Kommunikation führt, bei der jeder Ausdruck seine eigene Bedeutung und Berechtigung hat.
Von der Kamera zur Leinwand: Ihr filmisches Konzept
Sie tauchen ein in ein visuelles Konzept, das die Grenzen traditioneller Dokumentarfilme neu definiert. Belz entwickelte einen innovativen Ansatz, bei dem die Kamera nicht nur beobachtet, sondern aktiv an der Erschaffung eines literarischen Raums teilnimmt. Die filmische Umsetzung fokussiert sich darauf, die Entstehung von Literatur in ihrer Gesamtheit einzufangen, vom physischen Akt des Schreibens bis hin zur atmosphärischen Dimension des kreativen Prozesses.
Die technische Realisierung basiert auf der bewussten Entscheidung, alle Sprachaufnahmen im Haus aufzunehmen, nicht im Studio. Sie hören Handkes Stimme in ihrer natürlichen Umgebung, was eine besondere Intimität und Authentizität erzeugt. Diese technische Herangehensweise ermöglicht es, die charakteristische Klangfarbe seiner Stimme einzufangen und damit eine unmittelbare Verbindung zwischen Autor und Text herzustellen.
Die künstlerische Vision manifestiert sich in der Präsentation der Texte als eigenständige visuelle Elemente. Sie erleben, wie sich das Schriftbild über das Filmbild legt und der Satzbau sichtbar wird – ein innovativer Ansatz, der Sie vom Zuschauer zum aktiven Leser werden lässt.
Familie und Werk: Die persönliche Dimension
Sie entdecken in der Dokumentation eine facettenreiche Darstellung von Handkes familiären Bindungen, die sein literarisches Schaffen maßgeblich prägen. Als alleinerziehender Vater in den frühen 70er Jahren stellte er sich der Herausforderung, Familienalltag und künstlerisches Schaffen zu vereinen. Diese Erfahrung fand ihren Niederschlag in seinem Werk „Kindergeschichte“, das Sie als ein einzigartiges Zeugnis dieser Lebensphase erleben. Die im Krieg gefallenen Brüder seiner Mutter, die in vielen seiner Bücher auftauchen, und sein erfolgreichstes Werk „Wunschloses Unglück“ über das Leben und den Selbstmord seiner Mutter, zeigen die tiefe Verwurzelung familiärer Themen in seinem Werk.
Der Film gewährt Ihnen Einblicke in die sensible Integration dieser persönlichen Dimension. Sie erleben Handke nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als „großen und innigen Familienmenschen“. Die Gespräche mit seiner Tochter Amina in Wien und die gemeinsamen Momente mit seiner Frau Sophie Semin eröffnen neue Perspektiven auf sein künstlerisches Schaffen. Diese persönlichen Einblicke vermitteln ein tieferes Verständnis dafür, wie familiäre Beziehungen sein literarisches Werk bereichern und formen.
Ihr Vermächtnis in der Dokumentarfilmkunst
Sie werden Zeuge einer wegweisenden Innovation in der dokumentarischen Filmkunst. Belz‘ Werk etabliert neue Maßstäbe für die cinematographische Erfassung literarischer Schaffensprozesse. Die besondere Leistung liegt in der Entwicklung einer visuellen Sprache, die das Unsichtbare – den Moment der literarischen Schöpfung – greifbar macht. Diese methodische Innovation erweitert die Möglichkeiten des Dokumentarfilms und schafft eine neue Form der Annäherung an künstlerische Prozesse.
Der Film eröffnet Ihnen zukunftsweisende Perspektiven für die dokumentarische Arbeit. Die gelungene Verschmelzung von visueller und sprachlicher Kunst weist den Weg für kommende Generationen von Filmemachern. Sie erleben, wie die sensible Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Beobachtung und Interpretation, neue Wege der künstlerischen Dokumentation erschließt. Dieses Vermächtnis bereichert nicht nur die Dokumentarfilmkunst, sondern schafft auch ein tieferes Verständnis für die komplexe Beziehung zwischen Bild und Sprache in der zeitgenössischen Kunst.
Last modified: Dezember 2, 2024